Die ersten zehn Tage unserer Reise verlebten wir in und um Divinopolis, einer mittelgroßen Stadt im Bundesstaat Minas Gerais mit etwa 170.000 Einwohnern. Sie befindet sich rund 100 Kilometer südwestlich von Belo Horizonte.
Divinopolis ist die Heimatstadt von Jens. Hier brachte er insgesamt acht Jahre seines Lebens zu. Hier ging er zur Schule und machte anschließend eine Lehre zum Maschinendreher. Seine Eltern und sein Bruder Johannes leben immer noch hier. Wir konnten während unseres Aufenthaltes im Hause seiner Mutter unterkommen, die derzeit in Deutschland bei Jens’ Schwester weilt. Unsere Tage hier waren ausgefüllt mit Besuchen bei der Familie und bei Freunden von Jens – und Jens’ Familie ist groß.
In Brasilien gibt es übrigens im Vergleich mit Deutschland noch recht viele Kinder. Häufig sieht man Familien mit drei bis vier Sprösslingen. Für mich bedeutete dies Begegnungen mit einer Vielzahl von Menschen. Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Beeindruckend ist in Brasilien vor allem die ethnische Mannigfaltigkeit. Man sieht hier Menschen aller Volksgruppen und Hautfarben. Die verschiedenen ethnischen Gruppen haben sich hier im Gegensatz zu anderen Ländern jedoch gut vermischt. Bereits Stefan Zweig beschrieb in seinem Buch „Brasilien – Land der Zukunft“ diese einzigartige Vielfalt an Menschen der unterschiedlichsten Herkunft. Auch die Familie von Jens setzt sich aus Menschen, die aus den verschiedensten Regionen der Welt stammen, zusammen. Alle haben mich liebevoll aufgenommen. Alle begegneten mir mit dieser für die Brasilianer typischen offenen und freundlichen Lebensart. Der Tisch war immer für uns gedeckt. In allen Häusern habe ich mich jederzeit wie zu Hause gefühlt, und nie hatte ich den Eindruck zu stören.
An den ersten beiden Tagen besuchten wir Jens’ Tante und Onkel in Barbacena – einer Stadt, die zwei Autostunden nördlich von Rio de Janeiro liegt. Barbacena ist – wie Divinopolis – kein Reiseziel für Touristen. Auch hier kann man daher den authentischen brasilianischen Alltag erleben.
Auf dem Weg dorthin hielten wir in zwei alten Kolonialstädten aus der Zeit des Goldrausches in Brasilien. Die Geschichte des Staates Minas Gerais ist eng mit dem Abbau von Edelmetallen und Edelsteinen verbunden. Die ersten Menschen, die von den reichen Goldvorkommen hier berichteten, waren die „Bandeirantes“ – wagemutige räuberische Pioniere, die in die beinahe undurchdringlichen Wälder des Inlandes vorstießen. Es folgten ihnen tausende von Goldgräbern, die prächtige Kolonialstädte mit üppig verzierten Barockkirchen erbauten.
Die wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Als erstes statteten wir Sao Joao del Rey einen Besuch ab. Die Stadt hat uns sehr gut gefallen, da sie nicht so sehr von Touristen überlaufen ist wie etwa Tiradentes und Ouro Preto. Auch Jens, der sich anfangs weigerte, in der Stadt Halt zu machen – er fürchtete, dass die Zeit nicht ausreichte – war begeistert.
Danach besichtigten wir Tiradentes. Diese Stadt gilt als weiteres Juwel der alten Kolonialsiedlungen in Minas Gerais und zieht daher scharenweise Gäste an. Pensionen und Souvenirläden reihen sich dicht an dicht. Und auch an den Preisen wird deutlich, dass hier vor allem für und von Touristen gelebt wird. Mir hat besonders gut die Lage der Stadt gefallen. Die alten Kolonialhäuser stehen vor der wunderbaren Kulisse einer Bergkette. Unter einer sengenden Sonne durchstreiften wir die alten Gassen und beendeten unseren Rundgang schließlich reichlich ermattet in einem Café am Hauptplatz des alten Ortskernes. Der Name Tiradentes kommt übrigens von einem Zahnarzt (Tiradentes = Zahnzieher). Dieser hieß eigentlich Joaquim José da Silva Xavier und war der Anführer einer Rebellengruppe, die sich von der portugiesischen Krone trennen wollte. Seine Bemühungen waren jedoch erfolglos. Tiradentes wurde verraten und hingerichtet. Und das ziemlich grausam: Er wurde gevierteilt und seine Gliedmaßen in alle vier Himmelsrichtungen zerstreut. Heute gilt er in Brasilien als Nationalheld.
Danach zogen wir weiter Richtung Barbacena. Tante Elena und Onkel Iber empfingen uns mit ausgesprochener Herzlichkeit. Wir feierten bis spät in die Nacht mit ihnen und ihren beiden Söhnen Ulysses und Iler. Das Bier floss in Strömen. Immer wieder stand eine neue Flasche auf dem Tisch, immer wieder war mein Glas mit dem Hopfensaft gefüllt. Ich habe den Eindruck, dass in Brasilien mehr Bier getrunken wird als in Deutschland. Dazu verspeisten wir kleine Appetithappen, so genannte Tiragosto. Elena empfahl mir Jilo, eine Spezialität aus Minas Gerais. Es ist eine Art Zucchini mit bitterem Geschmack. Jens findet Jilo furchtbar. Mir hingegen hat er wunderbar geschmeckt. Jens’ Finger griffen lieber immer wieder in die Schale mit frittierter Schweinehaut – Torresmo. Diese sehen aus wie dicke Chips. Für mich als Vegetarierin ist das allerdings natürlich tabu.
Am nächsten Tag fuhren wir nach einem ausgiebigen Mittagessen bei Tante Elena weiter in Richtung Belo Horizonte, der Hauptstadt von Minas Gerais. Dort wollten wir Jens’ Oma und seinen Tanten unsere Aufwartung machen. Auf dem Weg dorthin legten wir einen kurzen Stopp in Congonhas ein. Dies ist eine Pilgerstadt mit wunderbaren Statuen aus Seifenstein, geschaffen von dem bekannten Barockbildhauer Aleijadinho. Er war der Sohn eines Kolonialherren und einer schwarzen Sklavin. Seine Hände waren – wahrscheinlich durch eine Pestinfektion – verstümmelt, sein Rücken gebogen. Um zu arbeiten, ließ er sich die Bildhauerwerkzeuge an seine Hände binden. Und er arbeitete trotz seines Leidens unermüdlich. Die Statuen der zwölf Apostel in Congonhas zeugen von seiner Kunstfertigkeit. Die Gesichter sind derart ausdrucksvoll, dass es fast scheinen mag, als seien lebende Personen urplötzlich zu Stein erstarrt.
Wir fuhren weiter nach Ouro Preto, der Perle des Kolonialbarock und die Stadt von Aleijadinho – hier wurde er geboren und begraben. Vor allem in den hiesigen Kirchen hat er seine Spuren hinterlassen. Doch leider kamen wir etwas zu spät – erst nach fünf Uhr. Die Gotteshäuser waren bereits geschlossen. Nichtsdestotrotz verließen wir nach rund zwei Stunden glücklich eine Stadt, die uns mit ihren malerischen steilen Gassen und Hügeln in ihren Bann gezogen hatte.
Weitere zwei Stunden später klingelten wir an der Haustür von Jens’ Oma. Die Tür öffnete sich, und heraus trat eine kleine sympathisch lächelnde ältere Dame. Jens überragt sie fast um das Doppelte. Sie war glücklich, ihren Enkel wieder zu sehen. Auch ich wurde herzlich begrüßt, und schon bald standen dampfende Schüsseln voller Speisen auf dem Tisch. Am nächsten Tag gingen wir auf den Markt von Belo Horizonte – den Mercado Centra. Er ist das Herzstück der Stadt. Hier machten wir einige Fotos und führten ein Interview mit der Marktverwaltung.
Später besuchten wir Tante Marisa und ihre Familie. Auch hier wurde ich wieder herzlich aufgenommen und auch hier wurden wir mit brasilianischen Köstlichkeiten verwöhnt. Die Häufen auf Jens’ Teller nahmen mehrmals gebirgszugartige Formen an. Er war glücklich, endlich wieder Reis und Bohnen essen zu können. Tante Marisa bat uns, zu bleiben. Aber wir mussten ja wieder zurück nach Divinopolis. Dort endete unser Ausflug schließlich mit einem kühlen Bier und frittierten Maniokstücken in einer Bar.
Die drei letzten Tage unseres Aufenthaltes in Divinopolis verbrachten wir hauptsächlich mit Jens’ Schwager Leston, einem ehemaligen Profifußballer, der bereits gegen Pelé und Garicha gespielt hat. Er ist in Divinopolis sehr bekannt und arbeitet heute als Radio- und Fernsehreporter für Fußballspiele. Er lud uns zu einem Churrasco in sein Haus ein. Leston liebt die Musik, und so dauert es nicht lange bis alle Gäste sangen, sich ein Instrument schnappten und darauf musizierten oder ihren Körper im Rhythmus des Samba bewegten. Immer wieder wurde ein Teller mit frischem kleingeschnittenem Grillfleisch gereicht. Wer Hunger hatte, nahm sich einfach ein Stück mit der Hand. Und auch die Biergläser füllten sich in regelmäßigen Abständen. Sowohl Bier als auch Fleisch schienen nie zur Neige zu gehen. Immer wieder griff ich zu meinem Bierglas und dachte wehmütig an meine arme Leber und den Bierbauch, der mich wohl alsbald schmücken wird.
Am nächsten Tag trafen wir uns früh am Morgen mit Leston vor dem örtlichen Fußballstadion von Guarani, der Erstliga-Mannschaft von Divinopolis. An diesem Tag wurde ein Freundschaftsspiel gegen Formiga ausgetragen. Leston ermöglichte es uns, auf das Spielfeld zu gehen, Fotos zu machen und mit dem Schiedsrichter und dem Clubchef zu sprechen. Plötzlich hatte ich ein Mikrofon vor meinem Gesicht. Ein Journalist aus Divinopolis bat mich meine Eindrücke von Brasilien und dem brasilianischen Fußball zu schildern. Ich beantworte seine Fragen gebrochen auf Portugiesisch. Auch Jens wurde interviewt. Die Reportage sollte am nächsten Tag gesendet werden.
Das Spiel war sehr defensiv. Meine Vorstellungen vom brasilianischen Sambafußball wurden leider nicht erfüllt. Das Ambiente im Stadium war jedoch einmalig. Das gesamte Spiel wurde von Trommelklängen und Sprechgesängen begleitet. Das Publikum war bunt gemischt. In der Pause gab es Bier, Cola und Fleischspieße. Fleischspieße sind hier die „Stadionswürste“.
Nach dem Spiel gingen wir in ein Botequin, eine einfache Bar für einfache Leute. Ich war die einzige Frau dort und die Attraktion der dort anwesenden Männer. Wieder hatte ich ein Bierglas in der Hand und wurde mit Fragen bestürmt. Meine Auskunft, dass ich eine deutsche Ärztin bin, löste Bewunderung und Wogen der Sympathie aus. Ich solle nach Brasilien ziehen und eine Praxis eröffnen, wurde mir nahegelegt. Ein kleiner, etwas ungepflegt wirkender Brasilianer griff sich immer wieder ans Herz und teilt mir mit, dass ich in Brasilien herzlich willkommen sei. Aus seinem Mund blitzte ein kariöser Schneidezahn hervor. Immer wieder sagte er mir, dass er mein Freund sei. Am Ende umarmte er mich und seine Arme glichen einer Stahlklammer. Hilflos suchten meine Augen Jens, der mich schließlich befreite. Am Ende gab mir ein anderer Barbesucher zum Abschied eine Schokolade.
Ich war erschöpft, erschöpft von der Aufmerksamkeit, die mir hier zuteil wurde. Am Abend gingen wir mit Jens’ Bruder Johannes, seiner Frau Glaene und seinem Sohn Jan zum Pizzaessen. Es war unser letzter Abend in Divinopolis. Am nächsten Tag wollten wir nach Argentinien fliegen. Wir verabschiedeten uns von all den lieben Menschen, die ich in dieser Woche kennenlernen durfte und in mein Herz geschlossen habe. Es waren spannende Tage, die mir tiefe Eindrücke vom Leben in Brasilien gegeben haben.